Sofern du mit Vernunft und Empathie gesegnet bist, solltest du zumindest für das Lippenbekenntnis bzw. die Selbstmanipulation bereit sein, dass dir das Wohl der Tiere wichtig sei.
Dann solltest du sagen und denken, dass du auch gegen Massentierhaltung seist, nur wenig Fleisch äßest und wenn, dann nur Bio, dass wir alle unseren Konsum reduzieren sollten und dass das Töten von glücklichen Tieren okay sei.
Das ist eine Einstellung, die man meiner Ansicht nach in dieser leider speziesistischen Welt dennoch mindestens erwarten darf. Je nach Ausprägung der Selbstreflexionsfähigkeit wirst du dich in der Beschreibung wieder finden, oder dich auf den Schlips getreten fühlen.
In beiden Fällen bleiben auch bei einem eigentlich so hoffnungsvollen positiven Selbstbild zwei sehr große Probleme bestehen. Wenn wir diese Probleme in der Einstellung bzw. dem Verhalten nicht radikal korrigieren, wird sich die Welt nicht ändern und auch in 1000 Jahren (sofern es dann noch Menschen gibt) werden die Leute sagen, sie fänden die Haltung von Tieren nicht gut.
Vielleicht ist dann auch die „Eigenschaft“ „nicht-Mensch“ zu sein, nicht mehr der einzige Grund für Zucht, Ausbeutung und Schlachtung. Vielleicht ist dann ja schon wieder die Hautfarbe ein Kriterium oder andere genetische Eigenschaften.
Wer gern in die Science-Fiction Richtung denkt, könnte sich einmal skizzieren, wie wir Menschen uns verhalten würden, wenn wir über friedliche Außerirdische stolperten. Und vor allem, wie dann die Lippenbekenntnisse klängen, wenn wir sie einsperren, an ihnen experimentieren, oder sie essen würden. Der Grad der „Massenhaltung“ jener empfindungsfähiger Individuen wird weiter gestiegen sein, statt 98% sind es dann vermutlich 99,99%.
Eigentlich gar kein so großer Unterschied, denkt mein zynisches Ich. Wenn wir aber bedenken, dass ihr jetzt schon alle „gegen Massentierhaltung“ seid und wenn ihr Tiere einsperren und töten wollt, dann nur glückliche, dann scheint da doch etwas nicht zu passen.
Das erste der beiden Probleme besteht zwischen der inneren Einstellung und dem Verhalten. Du sagst zwar, du findest Massentierhaltung schlecht, und zwar vermutlich, weil du damit Leid von Tieren assoziierst, aber du kaufst trotzdem entsprechende Produkte und bezahlst für das System. Und zwar in einem sehr großen, dir nicht bewussten oder verdrängten Ausmaß.
Die offensichtlichste Ware ist das Fleisch, weil es direkt aus Körpern von Tieren stammt und somit ihren Tod „sichtbar“ voraussetzt. Vermutlich stellst du dir während der Bekundung des Lippenbekenntnisses ein solches Stück Tierkörper vor. Dann erinnerst du dich, dass du im Sommer ein Grillfest veranstaltet hast und dafür sogar extra in den Bioladen gegangen warst.
Leider vergisst du dabei die unfassbare Menge des sonstigen Fleisches mitzuzählen oder übersiehst es im Rahmen deiner Normalität. Der „Aufschnitt“ zum Frühstück, der Döner in der Stadt, die Bolognese in der Mensa und die Salamipizza bei Freund*innen.
An all diesen Stellen bezahlst und unterstützt du Massentierhaltung, ohne dir des Ausmaßes wirklich bewusst zu sein.
Und das natürlich entgegen deiner eigenen inneren Einstellung. Das schlechte Gewissen bzw. die Reflexion darüber schimmert natürlich nur auf, wenn du einer Person gegenüber stehst, die wirklich darauf achtet. In allen anderen Situationen wirst du vermutlich keinen Gedanken daran verschwenden.
Noch massiver darüber hinaus geht jedoch der Konsum von allen anderen Tierprodukten. Das Bewusstsein dafür, dass „Massentierhaltung“ auch dem Ei, dem Käse und der Milch zugrunde liegt, fehlt vollständig. Denkst du von dir auch, dass du darauf achtest? Dass die Kuh, dessen Kalb entrissen und getötet wird, damit du Milch trinken kannst, glücklich war?
Der blinde Fleck für die Tierqualprodukte fängt schon bei den eigentlich offensichtlichen Dingen, wie der Butter auf dem Brot, oder der Milch im Kaffee an, verdeckt aber erst recht die noch größere Anzahl an Produkten, die diese Tierqualprodukte als Zutaten enthalten. Der Kuchen bei der Familie enthält nun mal Eier. Und achtet ihr darauf, dass die Hühner mit entzündeten Kloaken auch glücklich waren?
Und das Gebäck oder Kräuterdressing enthält oft auch Milchpulver oder ähnliches. Wer möchte denn behaupten, dass diese Inhaltsstoffe von glücklichen, totgestreichelten Tieren stammen? Die Betroffenen, die leiden und ihr Leben lassen, würden sich wünschen, dass ihr euren eigenen Worten und Einstellungen gerecht werdet und auch so handelt, als wenn ihr „Massentierhaltung“ wirklich blöd fändet.
Und ja, das heißt, dass ihr bei all diesen Dingen darauf achtet, dass diese Tierprodukte nicht enthalten sind. Im praktischen wäre das beinahe ein veganer Lebensstil, wenn man es wirklich ernst meint.
Damit kommen wir aber dann auch direkt zu dem zweiten Problem.
Denn wie sieht die Alternative zur Massentierhaltung aus? Ist es nicht viel mehr eine Worthülse, die „leidende Tiere“ bezeichnet, unabhängig davon, zu wissen, ab wann welche Tierzucht und Tötung als „Masse“ bezeichnet wird?
Die Verwendung des Begriffs impliziert, es gäbe eine leidfreie Alternative. Der Schwindel entlarvt sich im Grunde schon, wenn ich danach frage, ab wie vielen Hühnern pro Quadratmeter, oder ab wie vielen Quadratmeter pro Schwein oder Kuh etwas vertretbar, also leidfrei, also „glücklich“ ist.
Mir ist noch keine Person begegnet, die mir sagen konnte, ab wie viel Platz es für sie okay ist, ein Individuum lebenslänglich gefangen zu halten um es am Ende zu töten.
Wenn ich auf eine Einschätzung bestehe, dann liegen die Antworten so weit im utopischen Bereich, dass mir kein Zertifikat oder Biosiegel bewusst wäre, das diese Ansprüche erfüllt. Das bedeutet, dass diese Menschen nicht von „Massentierhaltung“ im Vergleich zu „Biotierhaltung“ sprechen, sondern dass sie von jeder wirtschaftlichen Haltung von Tieren sprechen und diese entsprechend verurteilen.
Folglich würden selbst die 2% Bioprodukte die ethischen Ansprüche von vermeintlicher Leidfreiheit auch aus Sicht der „glückliche Tiere darf Mensch töten“-Leute nicht erfüllen.
Wer Bilder aus Biobetrieben kennt, wird das selbstverständlich finden, aber selbst die karnistischen Lippenbekenntnisse schließen das meistens schon aus.
Wenn du also sagst, du seist auch gegen Massentierhaltung, dann ist das neben des Selbstbetrugs eigentlich keine andere Einstellung, als bei jenen, die vegan leben, weil sie gegen Tierquälerei sind.
Nur dass du dir noch eingestehen musst, dass alle Produkte, die du im Laden beziehen kannst, vom blutigen Stück Fleisch bis zum unerwarteten Magermilchpulver Tierquälerei unterstützen.
Über die philosophische Problematik hinter der Aussage, dass glückliche Individuen ruhig getötet werden können, bräuchte man also gar nicht mehr zu reden, denn sie ist nicht alltagsrelevant. Ich habe außerdem die Hoffnung, dass Menschen in reflektierten Momenten erkennen, welch bizarre Rechtfertigung Glück für das Verwehren des Interesses am Leben ist.
Es lässt sich sicher jahrelang Philosophie studieren, um allen Ebenen der Ethik in dieser Frage gerecht zu werden, aber man kann es auch einfach ganz simpel sagen: Man ermordet keine Individuen, die ein Interesse am Leben haben. Egal, ob glücklich oder unglücklich.
In jedem Fall folgt also, sofern du mit Vernunft und Empathie gesegnet bist, dass du zu deinen Werten stehen und Tierprodukte boykottieren solltest.
Mache etwas aus deinen Lippenbekenntnissen.
Sei ehrlich zu dir selbst und handle danach!
Dankeschön!