An dem Thema Tierrechte sieht man sehr gut, wie instabil die ethische Haltung einer Gesellschaft ist.

Wir wachsen in einem Wertesystem auf, in dem wir uns sicher fühlen. Wir gehören zu „den Guten“. Wir wissen, was richtig und falsch ist. Wie sehr wir dabei aber einfach nur in der gesellschaftlichen Norm gefangen sind, merken wir nicht, wenn wir nicht explizit mit Themen außerhalb der Norm konfrontiert werden.

Als Kind hatte ich erfahren, dass es Zeiten der Ungerechtigkeit gab. Schlimme Zeiten, in denen Gruppen misshandelt wurden. Ich muss an dieser Stelle hoffentlich keine Beispiele nennen. Damals hatte ich gedacht, dass diese Katastrophen vorbei seien. Und ich hatte meine Mutter gefragt, ob es noch einmal so etwas geben würde. Ein Phänomen der Ungerechtigkeit, das aktuell aber noch normal und unsichtbar ist, aber eines Tages voller Entsetzen zurückgeblickt wird, wie bei vergangenen Abschnitten der Geschichte.

Damals konnte ich mir das nicht vorstellen, weil wir ja alle „gut“ waren. Ich hatte mich gefragt, ob ich selbst dann zur Normalität gehören würde, oder zur Befreiungsbewegung. Viele Jahre später erst, wurde ich mit dem konfrontiert, was wir mit Individuen machen, die nicht zur Spezies Mensch gehören.

Es gibt eine Normalität, die eine unfassbare Gewalt gegenüber anderen Wesen legitimiert und unsichtbar macht. In meiner anfänglichen Naivität ging ich davon aus, dass ich es nur anderen Menschen zeigen müsste und sie dann ebenfalls voller Wut über die Ungerechtigkeit auf die Straße gingen und für die Rechte von Tieren kämpfen würden. Diese Erwartung resultierte daraus, dass ich in den gesellschaftlichen Werten der Norm aufgewachsen bin, die mein Umfeld ebenfalls vertrat. Dies erzeugte die Illusion, dass es ein „wir“ als Gesellschaft mit entsprechend positivem Selbstbild gäbe, das Ungerechtigkeiten erkennt und gegen sie kämpft.

Die Erkenntnis, dass sich auch Menschen, die man in jeder weiteren Hinsicht respektiert, die einem sogar selbst die gesellschaftlichen Werte vermitteln und gegen andere Ungerechtigkeiten vorgehen und einem zur Seite stehen, sehr schwer damit tun, Tierausbeutung als Problem zu erkennen, ist sehr ernüchternd. Gibt es etwa kaum ein wirkliches Verständnis von Ethik? Sind die gesellschaftlichen Werte, in denen wir uns so autonom fühlen, vielleicht einfach nur auswendig gelernt?

Wenn ein wirkliches ethisches Verständnis hinter anderen Diskriminierungen stecken würde, und zwar eines, das darauf basiert, dass die Rechte von Individuen nicht auf zufälligen Attributen wie beispielsweise der Hautfarbe oder des Geschlechts basieren sollten, sondern auf den entsprechenden Interessen und Bedürfnissen, würde man dann nicht ohne Wenn und Aber erkennen, dass auch die Spezies nicht über ein Recht auf Freiheit und Leben sowie körperliche Unversehrtheit bestimmen sollte?

Aber die Empörung über erkannten Rassismus ist groß, während das ethisch ähnliche Problem des Speziesismus oft abgestritten oder verteidigt, oder durch inhaltslose Rechtfertigungen verharmlost wird. Ich würde zumindest gern behaupten, dass die Empörung über Rassismus groß sei. Leider bricht dieses Wertesystem aktuell zusammen. Wenn Rassismus weiter den Weg in die gesellschaftliche Norm findet, dann schließt sich der Kreis. Wir lernen die Empörung über Rassismus nicht mehr und werden sie infolgedessen auch nicht mehr verstehen. (Update 2024: Leider Bewahrheitet sich das immer mehr.)

Auch weil wir den Kern nie wirklich verstanden, sondern nur auswendig gelernt haben. Wenn wir die ethischen Pfeiler unserer Gesellschaft nicht regelmäßig pflegen, dann brechen sie zusammen. Es gerät in Vergessenheit, wie wir sie aufgebaut hatten. So, wie es einst selbstverständlich war, rassistischen Inhalten keine Plattform zu bieten, so wissen wir heute nicht mehr warum. Naive Stimmen stellen das radikale Ausgrenzen von Rassismus infrage, während niemand mehr die Erfahrung oder Theorie kennt, warum das einst sinnvoll war.

An den Tierrechten können wir sehen, wie wir in Bezug auf anderen Themen vor dieser Gesellschaft stehen, wenn diese nicht mehr zur Norm gehören.
„Weil es Flüchtlinge sind.“,“Weil es Frauen sind.“,“Weil es Schwarze sind.“,“Weil sie anders sind.“ und „Weil es Tiere sind.“, sind letztendlich alles dieselben inhaltsleeren Diskriminierungsrechtfertigungen.

Und sie selbst, sowie die Empörung darüber scheinen in der Regel auswendig gelernt zu sein, wie sonst können unterschiedliche Einschätzungen zu diesen gleichen Mustern existieren? Es ist wichtig, dass wir uns ethisch vorwärts bewegen und den Kreis der zu berücksichtigenden Individuen stets erweitern, statt ihn einzuschränken. Statt dem Rassismus nachzugeben und Menschen aufgrund der Herkunft vom „Wir“-Gefühl auszuschließen, lasst uns also auch die Spezies als willkürliches Attribut erkennen und Tierrechte mit in unser Selbstverständnis aufnehmen. Damit diese ethischen Errungenschaften nicht immer wieder zusammenbrechen und neu erkämpft werden müssen, lasst uns die Theorie dazu in den Köpfen halten.

Lasst uns nicht nur die Moral vermitteln, sondern auch die ethischen Herleitungen dazu, damit so etwas nicht passieren kann.