Eines Tages sah ich einen Mann in einer Fußgängerzone. Er hielt Flyer in der Hand. Zu meiner überdurchschnittlichen Neugier kam hinzu, dass die Flyer absolut nichtssagend waren. Und der Aufhänger hat mich gefesselt. Ich wusste, würde ich einfach weitergehen, hätten mich die Fragen und die „hätte“-Gedanken des nächtlichen Schlafes beraubt.
Sind sie sich 100% sicher?
Das stand auf diesen rätselhaften Blättchen. Aber sicher wobei? Man kann sich doch bei nichts zu 100% sicher sein! Ich musste einfach wissen, was es mit dieser Broschüre auf sich hat. So begab es sich, dass ich mich dem Verteiler näherte und ihn um eines der Prachtexemplare bat. „Schnell getan“, dachte ich, aber welch ein Irrtum.
Anstatt mir einen Flyer in die Hand zu drücken, initiierte die Person eine Konversation. Nach maximal drei Worten war klar, worum es hierbei ging.
Er erklärte mir, in diesem Flyer ginge es darum, was passiere, wenn man jetzt sterbe.
Genauer noch ging es um den Gedanken, ob ich mit meinem jetzigen Leben den Ruhm des Himmels erlangen würde, oder doch nur die Qualen der Hölle erleiden müsse.
Entgegen meiner instinktiven Reaktanz ließ ich mich einmal auf diese Frage ein. Der Mann dort auf der Straße setzte sich für eine Sache ein – er verteilt Flyer und versucht zu bekehren und würde im entsprechenden Weltbild dadurch wahrscheinlich in den Himmel gelangen.
Er erzählte, wie er zu seinem Glauben fand. Ich erfuhr, dass er früher Atheist gewesen sei und das alles für Quatsch gehalten habe.
Ich frage mich, ob das eine bewusst eingesetzte Manipulationstechnik war, da mir das „Ich war früher auch so wie du“ in dem Kontext schon oft begegnete.
Aber dann erinnerte ich mich, dass ich das natürlich auch direkt erwähnen würde, wenn es so gewesen sei.
Er berichtete nun also von einer enormen Ziellosigkeit, die erst wegging, als er dieses „größere Ziel“ für sich entdeckte. Mein erster Gedanke war natürlich „Toll, so hab ich mich auch rückblickend gefühlt, bis ich anfing, mich für ein Ideal einsetzen zu wollen.“. Er stellte in den Raum, dass das einzig sinnvolle Leben das nach der Bibel sei.
In meinem Kopf fand ein regelrechtes Gedankengewitter statt. Es gab so viele Dinge, die ich in seinen Monolog hätte einwerfen wollen, aber das Verlangen, endlich weitergehen zu können stand dem entgegen. Nun stelle ich mir jedoch folgende Frage:
Angenommen, der Gott der Bibel existiert auf irgendeine Weise, ebenso wie Himmel und Hölle.
Ist es dann wirklich so wichtig, sich so zu verhalten, dass man später in den Himmel käme?
Welche Rolle spielt das „Leben nach dem Tod“ im jetzigen Leben?
Es gibt viel Leid auf dieser Welt, das bekämpft werden sollte. Unabhängig davon, was eine allmächtige Person sagt.
Egal ob ihr die Handlung zuwider wäre, da sie das Leid eventuell absichtlich erhalten will oder aber ob der*die Allgütige will, dass man das Leid zu lindern versucht.
Fakt ist doch, man sollte aus Eigenantrieb heraus die Welt, in der man lebt, versuchen ein Stückchen besser zu machen, oder nicht?
Ob ich dann in den Himmel oder die Hölle komme, wäre mir absolut gleichgültig, solange ich so gelebt habe, wie ich es für richtig hielte.
Eine Instanz, die mich zu „guten Taten“ zwingt, muss es dafür nicht geben.
Traurigerweise begegnet mir ab und an die Frage, wie ich denn überhaupt Handeln könne oder mich für irgendetwas einsetzen wollen würde, wenn ich doch nicht daran glaube, dass ich nach dem Leben hier noch weiter existieren werde.
Es trifft mich wirklich, wenn jemand damit impliziert, er*sie würde nur unter Zwang ethisch korrekt handeln wollen.. Was zur Hölle?
Wo ist denn die „Menschlichkeit“? Wo ist der evolutionär mühsam entstandene Drang, das Leid anderer Individuen zu lindern?
Ist es nicht völlig egal, was eine andere Person oder Götter für richtig halten und was nicht, wenn wir doch selbst erkennen können, was Unrecht ist?
Ist es nicht egal, ob in der Bibel das Opfern von Tieren verherrlicht wird, wenn wir doch erkennen, dass solches Ermorden schlecht ist?
Ist es nicht egal, dass die Bibel die Frau oft unter dem Mann einordnet, wenn wir erkennen, dass es hier im echten Leben keinen Grund dazu gibt?
Ist es nicht völlig egal, mit wie viel Rache in der Bibel gearbeitet wird, wenn wir selbst wissen, dass Rache abzulehnen ist?
Und ist es nicht egal, dass dieses Buch behauptet, wir seien alle „Sünder*innen“ und jemand hätte sich für uns opfern müssen, wenn wir doch immer das tun, was wir für richtig halten?
Brauchen wir wirklich eine riesige Belohnung, um „Gutes“ zu tun?
Können wir wirklich ohne Gott nicht aufopfernd handeln und zum Wohle anderer einmal zurückstecken?
Nein, Gott ist dazu nicht notwendig! Das weiß mindestens jedes Elternteil, das für das Leben des Kindes durch Feuer gehen würde!
Ob religiös oder nicht. Ausbeutung, Leid, Unterdrückung und Unrecht in Bezug auf jedes empfindungsfähige Lebewesen sollte bekämpft werden.
Und ein göttliches Wesen, das das anders sieht, hätte keine Anerkennung verdient.
Dann bedankte ich mich für den Flyer und ging.
Inhalt waren lediglich die zehn Gebote.