Die Floskeln “Leben und leben lassen” oder “Muss jede*r selbst entscheiden” werden wohl nicht aussterben.

Es gibt kaum bedeutungslosere Aussagen. In Alltagssituationen kommt es gar nicht so oft vor, dass ich Menschen proaktiv vom Veganismus überzeugen möchte. Oft bin ich zu faul, mir die immer gleichen Diskussionen anzutun und bin mit einer passiven Rolle zufrieden. Okay, meistens klappt das nicht. Da kann ich dann bestimmte Kommentare einfach nicht ignorieren. Aber auch wirkliches Interesse an meinen Beweggründen kann vorkommen und dann erzähle ich gern davon. Aber so oder so kommt irgendwann die Aussage, dass man selbst entscheiden und tolerant sein müsse.

Natürlich muss man selbst entscheiden, wie sollte es auch anders funktionieren?
Ich sperre doch keine Menschen ein und zwinge sie, grüne Smoothies zu trinken. Und ich schlage niemandem das Schinkenbrot aus der Hand. Ich bin darauf angewiesen, dass Menschen sich selbst dazu entscheiden, “Nein” zu diesen Grausamkeiten zu sagen. Aber wenn man mir das so erklärt, als wüsste ich das nicht, dann frage ich mich manchmal, was die Leute für eine Vorstellung von mir und meinen Überzeugungsmethoden haben.

Liebe Mitmenschen, ihr könnt euch entspannen, ich wäre einer der letzten, der euch mit etwas, das euch wichtig ist, erpressen wird.
Okay, abgesehen vom “Gewissen”, aber das scheint vielen ja nicht allzu wichtig zu sein. Oder es ist einem wichtig und man distanziert sich von meiner impliziten Handlungsaufforderung, nach den eigenen Werten zu handeln, indem man Toleranz fordert. Klar, dieses Toleranzbekenntnis macht es überhaupt erst möglich, dass man meinen Aussagen zumindest im Groben zustimmen kann, ohne sich selbst vegan zu ernähren. Die Art, mit der dieses Bekenntnis rüber gebracht wird, unterscheidet sich natürlich extrem und wer will schon alle Menschen in eine Schublade stecken? (Das ist zwar eine rhetorische Frage, aber die rhetorisch implizierte Antwort “niemand” wäre wohl trotzdem falsch – das ist mir nur gerade aufgefallen und ich musste es loswerden.)

Es kann zum einen ein direkter Angriff sein. Ein Vorwurf, ich würde Menschen bevormunden wollen und sollte das unterlassen. Es kann aber auch eine authentisch gemeinte Erklärung dafür sein, weshalb jemand glaubt, sich selbst nicht so sehr gegen einen Ernährungsstil aufzulehnen, den er*sie zumindest in Teilen verwerflich findet. Das ist insbesondere bei dem Stichwort “Massentierhaltung” nicht selten. Denn alle haben etwas dagegen, aber niemand handelt konsequent und kritisiert deshalb auch Dritte dafür nicht. Aber ob es nun ein Vorwurf gegen meinen “Aktivismus” ist (und möge er auch nur aus der Beantwortung von Fragen auf einer WG Party bestehen) oder aber eine Entschuldigung für die eigene Zurückhaltung oder mangelnde Handlungsmotivation, so bleibt mir dennoch unverständlich, wie man den so offensichtlichen Widerspruch darin nicht erkennen kann.

Auf mehreren Ebenen wirkt das ganze paradox: Fordere ich “Das muss jede*r selbst entscheiden” oder “Leben und leben lassen”, dann möchte ich damit jemandem ein moralisches Gebot auferlegen. Ich mache einen moralischen Vorwurf und verlange eine in dem Sinne korrektere Verhaltensweise. Gleichzeitig kritisiere ich inhaltlich aber, dass jemand anderen einen moralischen Vorwurf macht und Handlungen kritisiert. Wer also diese Aussage als Kritik an “Veganer*innen, die allen ihre Meinung aufzwingen” nutzt, trifft sich dabei noch während des Aussprechens selbst, indem genau damit anderen ein Verhalten aufgezwungen werden soll.

Die Aussage “Leben und leben lassen” ist aber auch noch auf einer zweiten Ebene äußerst zynisch. Denn “Leben und leben lassen” ist unabhängig von der undurchdachten Toleranzforderung auch noch inhaltlich die perfekte Motivation für genau den damit kritisierten Lebensstil. Wer auf seinem Teller tote Tiere liegen hat und das mit der Aussage “Leben und leben lassen” rechtfertigt, bzw. meine Forderung nach “Leben lassen” damit kritisiert, handelt äußerst merkwürdig.

Dieses Paradoxe sticht mir so direkt ins Auge, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie jemand das beim Aussprechen nicht selbst merkt. Und das wiederum macht mich durchaus sprachlos in der Situation.

Wer also Aufklärungsversuche mit der Forderung nach der persönlichen Entscheidung kritisieren will, versucht damit ja selbst “aufzuklären” und verwechselt meinen Versuch, Tierrechte zu erklären und Empathie für Tiere zu vermitteln, mit einem gewaltvollen Erzwingen, obwohl ich lediglich die notwendige Grundlage für eine eben solche “eigene Entscheidung” vermitteln will.

Wer “Leben und leben lassen” fordert, sollte sich direkt für Tierrechte einsetzen, statt sie damit zu kritisieren, denn diese basieren auf genau der Forderung.

Das was ich zu vermitteln versuche, ist doch: Lebe dein leben, aber lass doch andere auch am Leben.
Und ja, Kritik ist gut und notwendig. Du darfst mich also gerne kritisieren. Aber bitte nicht mit solcher Unsinnigkeit.