Es gibt so ein ganz bestimmtes Gefühl, das jede*r von euch kennt. Dieses Gefühl, wenn ihr etwas für total offensichtlich und selbstverständlich haltet, aber niemand anderes es sieht.

Sehr schnell schlägt diese Empfindung dann in eine Machtlosigkeit um. Die Machtlosigkeit, in der man in das Kopfkino flüchten muss, um sich zu sehen, wie man ded anderen Person die Offensichtlichkeit direkt vor die Nase klatscht.

Es gibt beispielsweise eine Situation, in der ich leider komplett verlernt habe, verständnisvoll zu sein. Auch, wenn ich selbst mal ähnlich gedacht haben sollte, ich kann selbst mit größter Mühe nicht mehr verstehen, wie man das nicht sehen kann: „Moralapostel mundtot machen“

Es ist ein Phänomen, das ständig auftaucht. Ob nun bei dem Argument „Alle wie sie wollen“, „Ihr seid missionarisch“, „Moral ist subjektiv“ oder anderen Ethik relativierenden Statements.

Es basiert immer auf Folgendem: Mir wird unterstellt, ich würde anderen etwas vorschreiben wollen oder ihnen meine Lebensweise aufzwingen. Es wird behauptet, alles sei eine absolut persönliche Angelegenheit. Ich möchte jetzt gar nicht darauf eingehen, dass es generell an Verständnis dafür mangelt, dass es um ethische Themen geht und man diese Dinge deshalb nicht so einfach als „rein persönlich“ abstempeln kann – was entsprechende Menschen selbst bei anderen ihnen ethisch wichtigen Dingen auch nicht täten.
Dafür kann ich sogar noch Verständnis aufbringen. Da vermittle ich sogar sehr gern, wieso das eben nicht bloß eine „Geschmackssache“ ist.

Aber das, was ich einfach absolut nicht mehr nachvollziehen kann, ist der simple Umstand, dass eine Person vor mir steht, die gerade mit dem Finger auf mich zeigt, mir sagt, dass sie falsch findet, dass ich anderen sage, was ich falsch finde und dass ich will, dass sie das unterlassen, und die will, dass ich das unterlasse.
(Ja, der Satz ist Absichtlich so strukturiert, dass er 3 mal gelesen werden muss. Das symbolisiert mein eigenes Missverständnis – nur als Lösungsvorschlag, falls dieser Text im Deutschunterricht interpretiert wird.)

Ich denke selten auf englisch, aber in solchen Situationen nimmt mein Kopf alle Fremdsprachkapazitäten zusammen, um den einzig angemessenen Gedanken dazu formulieren zu können: „Wtf?“

Wieso wollen mir denn alle ihre Meinung aufzwingen, dass jede*r selbst entscheiden könne, was er*sie täte?
Es gibt zwar viele Möglichkeiten, auf einen solchen Vorwurf zu reagieren. Von dem Hinweis auf die gleiche Freiheitsforderung für die betroffenen Parteien, über Erörterungen der Unterschiede zwischen persönlichen Neigungen und ethischen Forderungen, bis zu flapsigen Kurzantworten, wie „Ja, dann lass mich doch selbst entscheiden, wen ich was selbst entscheiden lassen will.“.

Aber nichts davon empfinde ich als befriedigend.
Kann es nicht einfach so sein, dass ich nur einen kurzen Moment nichtssagend warten muss, bis der Person die Unsinnigkeit ihrer gerade getätigten Aussage in absoluter Vollkommenheit wie Schuppen aus den Haaren fällt und ihre flache Hand mit unerwarteter Geschwindigkeit schallend von der eigenen Stirn gebremst wird?
Das muss man doch einfach merken!

Jedes Mal warte ich, nie passiert es.