Wie in Trance geht Marten nach Hause. Er ist benommen und den Tränen nahe. Die Bilder gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Seine Klasse hatte einen Ausflug zu einem alten Schlachthof gemacht. Seit im Jahre 2087 das letzte Schlachthaus geschlossen wurde, finden regelmäßige Ausflüge in die stillgelegten Örtlichkeiten statt, um der zahllosen Tode zu gedenken. Marten kennt die Geschichte, aber bis heute war sie so fern. Seine Großeltern hatten das noch miterlebt. Er hatte bereits gewusst, dass sie damals Tiere gegessen hatten, aber erst heute ist aus dem abstrakten Wissen ein konkretes Bild geworden. Ein sehr beklemmendes Gefühl kurvt durch seine Gliedmaßen und seine Augen sind noch immer gerötet. Sie hatten nicht nur die riesigen Hallen gesehen, in denen einst das Blut der wehrlosen Tiere floss, sie mussten durch AR-Brillen auch direkt miterleben, was nur einige Jahrzehnte zuvor in den Fabrikhallen stattfand. „Die Brille ist freiwillig, wenn ihr den Anblick nicht mehr ertragt, dann schaltet sie aus.“, wurden sie von ihrer Lehrkraft gewarnt. Natürlich wollte Marten es sehen, er war ja kein Feigling. Aber schon kurz nachdem er sie angeschaltet hatte und in die ersten unschuldigen Augen blickte, während im Hintergrund die Schreie durch die Halle schallten, wurde ihm mulmig. Als er sich zur Seite drehte und ihm geradewegs Blut entgegen spritzte, brachen die Tränen aus ihm heraus. Er wusste, dass sie die Tiere durch sogenanntes „ausbluten“ sterben gelassen hatten, aber diese Brutalität hatte er nicht erwartet. Bei den Gedanken daran treten ihm wieder die Tränen in die Augen.
Er steht vor der Haustür und klingelt. Die Realität kommt ihm unwirklicher vor, als die Bilder aus dem Schlachthof. Sein Vater öffnet ihm „Oh Marten, was ist denn los?“. Marten kann sich nun nicht mehr zurückhalten, er klammert sich an seinen Vater und weint. „Wieso haben sie das damals gemacht?“, schluchzt er. „Die hatten da riesige Hallen! Und die waren nur dafür da, diese Tiere zu töten! Wie konnten sie das tun? Niemand ist so grausam!“ „Och Marten, ja, es war schlimm. Aber es war einfach normal damals.“ „Aber sie wussten es doch! Sie wussten doch, was dort passiert. Wieso haben sie nichts dagegen getan?“ „Das ist eine sehr gute Frage, wir können uns nur schwer in die Zeit damals hineinversetzen.“ „Wieso war das kein Verbrechen? Ich hasse die Leute, die das gemacht haben!“ „Es ist gut, dass du das als so grausam empfindest, aber wir können nicht einfach Menschen hassen. Hass ist nie etwas Positives. Wir sind nichts Besseres, als die Menschen damals. Die tollsten Menschen haben das System unterstützt. Immer mehr Menschen haben diese Gewalt abgelehnt, aber du darfst die Macht der Normalität und Gewohnheit nicht unterschätzen! Verstehst du?“ „Aber ich hätte das niemals getan!“ „Das wäre sehr schön. Aber man weiß es nicht. Vielleicht wäre ich auch ein Teil davon gewesen, wenn ich zu der Zeit gelebt hätte. Die Leute sind damit aufgewachsen und kannten nichts anderes.“ „Aber sie hätten etwas dagegen tun können!“ „Nun, das haben sie ja letztendlich, deshalb gibt es nun ja auch keine Schlachthäuser mehr. Aber gesellschaftliche Wandel sind nicht einfach und brauchen Zeit, sie sind auch nicht schwarz-weiß. Wir alle können Teil von etwas sein, das später als grausam gewertet wird und wir wüssten es nicht. Das ist schon öfter in der Geschichte der Menschheit passiert.“
Marten beruhigt sich etwas und wischt die Tränen aus dem Gesicht.
„Heißt das, es kann auch sein, dass in tausend Jahren etwas doof ist, was wir gerade tun?“ „Oder vielleicht schon in hundert Jahren. Und willst du, dass die Menschen uns dann hassen?“ „Aber wenn wir was blödes machen, dann sollten wir doch einfach damit aufhören!“
„Ja Marten, du hast recht! Wenn es nur so einfach wäre..“