Auf einer gewissen Ebene bin ich froh, diese Erfahrung machen zu dürfen.
Die Macht der Normalität ist nur dann zu spüren, wenn man von dem Standardweg abkommt.

Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, die Erwartungshaltungen zu brechen. Doch die Seitenwege des Individualismus sind trotzdem oft gut gepflastert. Einige jedoch führen zu versteckten Lichtungen und Sichtweisen. Während alle die Straße entlang laufen, kann ich auf einen Hügel klettern und sehen, dass sie im Kreis führt.

Ich vermisse meine kindliche Naivität, zu glauben, dass die, die die Spitze des Zuges bilden, wüssten, wo es hingeht. In meiner privilegierten, wunderschönen und konfliktarmen Kindheit waren Grausamkeiten stets nur Geschichten. Ich hatte zwar verstanden, dass es Zeiten und Situationen gab und gibt, in denen Menschen schreckliche Dinge tun, aber es schien so unfassbar weit weg. Da kommt dann die häufig gestellte Frage „Wieso hat niemand etwas dagegen getan?“ oder „Wieso haben alle dabei mitgemacht?“

Und nun endlich weiß ich es. Ich bin vor einigen Jahren von der ethischen Hauptstraße abgekommen und laufe seither mit wenigen Anderen auf einem wunderschönen Nebenpfad. Im Sinne meiner kindlichen Naivität rief ich begeistert herüber „Kommt her, hier ist auch ein Weg, er ist viel schöner!“
Und ich hätte erwartet, dass man begeistert nachsieht, mit über die Böschung klettert und wir den neuen Pfad entdecken.

In dem Moment kam die große Erkenntnis, das große Verständnis und ebenso die riesige Enttäuschung. Ich hatte mit einem Mal verstanden, warum Menschen tun was sie tun. Menschen bewegen sich in den eigenen Grenzen die sie haben, vermeintlich autonom. Als wären sie in einem geschlossenen Labyrinth und würden dieses analysieren und verstehen, um ihm entfliehen zu können. Die Illusion brach, als hätte man die äußeren Mauern des Labyrinths entfernt und Menschen frei gelassen hat. Aber sie verlassen es nicht, sie irren weiter umher und versuchen, das Labyrinth zu entschlüsseln. So entwich meine Illusion, als mir niemand glaubte, dass der Pfad existiere, von dem aus ich hinüberrief. Als mir niemand glaubte, er sei schön. Sie unterstellten mir, es wäre ein Weg, den ich barfuß über Dornen und Disteln lief. Und jene, die es zumindest in Erwägung zogen, dass ich recht hätte, wollten nicht rüberkommen, weil sie dafür durch das Gebüsch stiefeln müssten. Sie wollten ihre Kleidung nicht beschmutzen oder zerreißen. Stattdessen liefen sie stundenlang, tagelang, monatelang auf dem Betonpfad weiter, der zunächst ihre Schuhe und dann ihre Füße zerstörte, nur um am Ende des Kreises in den Abgrund zu stürzen.

Und seither laufe ich barfuß über Wiesen und durch paradiesische Bachläufe, kann ab und an die Hauptstraße sehen und das Leid und die Schreie hören, die ich zumeist auszublenden versuche. Aber wenn ich hinüberrufe, dann inzwischen mit geringer Hoffnung. Und doch schaut die ein oder andere Person nach, findet den Seitenweg und macht dieselben ernüchternden Erfahrungen. Aber wir rufen weiter, denn ab und zu gibt es eine Person, die uns hört und sogar zuhört und sich letztendlich für den Ruf bedankt.

Die Straße ins Verderben bietet eine Sicherheit, die nur wenige bereit sind aufzugeben. Die Straße der Normalität wird nicht verlassen, sie leitet die Menschen. Deshalb folgen ihr alle, deshalb ändert niemand den Kurs. Deshalb machen wir immer alles mit, egal, in welches Grauen sie führt und wie hoch der Preis ist.

Verlasse das Labyrinth!